Der Werkbund und das Stadtforum Berlin


Helga Fassbinder

Iin: G.Angress u.a. (red.), Rückblick, Einblick, Ausblick.
Deutscher Werkbund Berlin, Berlin 1999,
pp.115-129 (ISBN 3-929273-29-2)


Für die meisten Jubilare, die auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken können, gilt: sie gehören nicht mehr zu den Kräften, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben, sondern tragen mehr dazu bei, daß die Dinge ihren geordneten Gang gehen. Sie sind, wenn ihre Geschichte gut verlaufen ist, etabliert, angesehen, handeln abgemessen und haben manchmal eine Neigung zum Betulichen. So auch der Deutsche Werkbund Berlin, werden jetzt einige sagen und beifällig nicken.

Falsch. Wenn so über den Berliner Werkbund gedacht werden sollte, dann hat er bestenfalls ein Image-Problem, mehr nicht. Doch auch ein Image-Problem ist nicht zu unterschätzen, denn schließlich stecken wir alle voll von Clichés, und eine Vereinigung, deren Mitglieder mehrheitlich nicht aus jungen, sondern aus bereits arrivierten, angesehenen Menschen besteht, wird eben nur schwer noch als vorwärtstreibende Kraft wahrgenommen. Aber doch ist das mit dem Deutschen Werkbund Berlin so. Das sehr besondere an ihm ist, daß er seiner organisatorischen Struktur und seiner personellen Potenz nach eine höchst zeitgemäße, ja eine weit in die Zukunft hineinreichende Institution ist. Statt als eine verstaubte Vereinigung entpuppt sich bei näherer Betrachtung der Werkbund als Zukunftsentwurf für eine Zivilgesellschaft, eine Bürger-Gesellschaft verantwortungsbewußter Individuen, die unabhängig von steuernden Obrigkeitseingriffen in freiwilligem Zusammenschluß ihr Wissen und ihre Intelligenz zusammenfügen zu einem gemeinsamen Handeln aus der Verantwortung für die Gesamtheit der Stadtgesellschaft heraus(1)

Diese seine zukunftsweisenden zivilgesellschaftlichen Qualitäten will ich im folgenden am Fall des Berliner Stadtforums erläutern, jener spektakulären städtischen Inszenierung, hinter deren Zustandekommen ganz wesentlich der Deutsche Werkbund Berlin stand. An diesem Fall ist besonders schön zu erkennen, welche "unvergleichliche Ressource", wie Helga Schmidt-Thomsen es in ihrem Beitrag so treffend sagt, der Werkbund darstellt. Der Werkbund ist ein braintrust für mögliche Konzepte einer humanen Gesellschaft, ein braintrust von Menschen, die ihre Aufgabe darin sehen, in einer glatten, konsumorientierten und mediengerechten Gesellschaft zu problematisieren, gegen den Strich zu denken, scharf und wenn's sein muß kontrovers zu diskutieren, ein braintrust von Menschen aus unterschiedlichen Disziplinen (in der Initiativgruppe für das Stadtforum waren neben Architektur und Stadtplanung auch die Theologie, die Wirtschaftswissenschaft und die Politologie vertreten), und er ist ein Netzwerk von Individuen über Institutionen, Landes- und manchmal selbst nationale Ländergrenzen hinweg, die sich auf der Basis einer gemeinsamen Zielsetzung zusammengefunden, sich in einem wechselseitigen Interesse aneinander selbst ihre Partner gesucht haben. Dagegen ist Werkbund kein Interessenverband und er ist keine Fachvereinigung. Das macht seine Modernität und seine Potenz aus, und nur aus dieser Haltung heraus konnte er seine Rolle als Initiator und Hüter dieser großen planerischen Neuerung Stadtforum spielen.

Das Stadtforum Berlin wurde im April 1991 aus der Taufe gehoben - und damit wurde gewissermaßen d a s Stadtforum schlechthin introduziert, die Mutter aller Stadtforen, die seither als Planungs- und Abstimmungsorgane in verschiedenen Städten im In- und Ausland ins Leben gerufen worden sind. Das Berliner Forum hat dabei als praktisches Beispiel gedient - mit allen Unvollkommenheiten eines Experiments - und hat auf diese Weise einen großen Einfluß auf die Entwicklung eines kooperativen Planungsprozesses ausgeübt. In diesem Stadtforum wurden zum ersten Mal Pläne nicht hinter den verschlossenen Türen der Verwaltung als ein weitgehend fertiges Produkt erarbeitet, um dann der Öffentlichkeit zur (nachträglichen) Partizipation vorgestellt zu werden, sondern wurden Planungen vom ersten Schritt an in aller Öffentlichkeit vorbereitend diskutiert und in ihrer Ausarbeitung einer kritischen Begleitung unterzogen. Das ist ein großer und mutiger Schritt von allen Beteiligten: der planenden Verwaltung, der verantwortenden Politik und den Teilnehmern des Forums.

Das Zustandekommen des Stadtforums Berlin geht zurück auf eine Initiative des Deutschen Werkbunds Berlin. Christian Tietze hat in seinem Beitrag die Inkubation der Idee einer kooperativen Berliner Planung beschrieben und auf die Rolle verwiesen, die dabei der Brückenschlag zwischen Ost und West mithilfe von Werkbund und den beiden evangelischen Akademien gespielt hat, so daß ich mich hier auf Stichworte beschränken kann.

Nach dem Fall der Mauer und dem darauf folgenden hektischen Planungsfieber, das durch die Aufgabe des Zusammenwachsens der beiden Teile Berlins ausgelöst worden war, war wie bei vielen Fachleuten und besorgten Berlinerinnen und Berlinern auch in Kreisen des Werkbunds die Befürchtung entstanden, daß unter dem gewaltigen Zeitdruck nun zu Verfahrensweisen gegriffen werden könne, die dem Anspruch an eine demokratische Planung nicht mehr Genüge tun. Aus dieser Besorgnis heraus veranstaltete der Werkbund zusammen mit den beiden Evangelischen Akademien West und Ost im September 1990 ein ganztägiges bürgeroffenes Symposium in der Französischen Kirche, das der Frage gewidmet war, wie nun in dieser Situation eine demokratische Mitwirkung an den anstehenden Planungen gewährleistet werden könne.

Eingeladen, hierzu einen konzeptionellen Beitrag als 'Initialzündung' zu leisten, stellte ich die Idee eines stadtweiten Planungsforums zur Diskussion. Diese Idee gründete einerseits auf meiner jahrelangen Erfahrung der Mitwirkung in verschiedenen konsensorientierten Gremien der Entscheidungsvorbereitung in den Niederlanden(2) und war gleichzeitig angeregt durch das faszinierende neue Phänomen der Runden Tische, die überall in der ehemaligen DDR entstanden waren.

In Gesprächen, die ich zur Vorbereitung meines Vortrags mit verschiedenen Fachleuten in der Stadt geführt hatte, war mir klar geworden, daß angesichts der mächtigen Interessen, die nun auf die Stadt und ihre politischen Organe einstürzten, und der demgegenüber hilflosen Verteidigungsversuche gesellschaftlich schwächerer Gruppen diese gigantische Aufgabe nicht bewältigt werden könne mit den bekannten demokratischen Verfahren partizipativer Planung. Die Frage nach Art und Intensität der zukünftigen Nutzung des städtischen Bodens - die zentrale Frage der Stadtplanung - durfte m.E. nicht zu einer Angelegenheit des Tauziehens verschiedener Interessengruppen werden, über die dann Verwaltung und Politik nach Maßgabe entscheiden würden. Diese Frage mußte vielmehr als eine öffentliche Sache gemeinschaftlicher Verantwortung behandelt werden. Das besagte auch, daß die Forderung nach einem demokratischen Verfahren sich nicht auf die Durchsetzung von Beteiligung schlechthin beschränken durfte. Sie mußte thematisieren, daß bei allen Beteiligten, ob Planungsverwaltung, Interessengruppen oder einfach Bürgern dieser Stadt, das Denken in Forderungen durch ein Denken in gesamtstädtischer Verantwortlichkeit ersetzt werden müsse.

Und es war noch mehr nötig, um unter diesem hektischen Handlungsdruck gravierende Fehler zu vermeiden: es war nötig, buchstäblich alles Wissen und alle Ideen, die in der Stadt lebten, zu mobilisieren und einer öffentlichen Diskussion und konsensorientierten Abstimmung zu unterwerfen. So etwas läßt sich freilich nur mit einer auch wirklich effizienten Konstruktion von Mitwirkung erreichen. Aufgrund meiner Erfahrung in den Niederlanden war ich der Überzeugung, daß die Mitwirkung an einem solchen Planungsprozeß so strukturiert sein müsse, daß von Anfang an alle wesentlichen Gesichtspunkte in einem offenen und öffentlichen Diskussionsprozeß zu Wort kommen können: die der relevanten und als Gruppierung oder Strömung identifizierbaren städtischen Akteure; die aller relevanten Fachdisziplinen; und last not least die unterschiedlichen Gesichtspunkte, die sich aus den Blickwinkeln der verschiedenen Maßstabsebenen, vom Micro- bis zum Macro-Niveau ergeben. Das Resultat: die Mobilisierung der kollektiven Intelligenz der Stadtbürger, der organisatorische Rahmen hierfür ein stadtweites Forum.

Mit dem Konzept eines stadtweiten Planungsforums war allerdings Weitreichendes verbunden, von dem einiges auch heute noch zu den kontroversen Themen gehört, nämlich daß es nicht um die Beteiligung von Bürgern im allgemeinen geht, sondern um die wohlüberlegte Komposition einer Gruppe von Menschen, die die diversen Interessenlagen, die unterschiedlichen weltanschaulichen Strömungen und die verschiedenen Fachdisziplinen, so wie sie in einer Stadt zu finden sind, repräsentieren; aber die auch die unterschiedlichen räumlichen, sozialen und politischen Bezüge der Problemstellung und seiner Lösung zur Geltung bringen können. Ein solches Gremium kann eigentlich kaum mehr unter dem eingefahrenen Begriff der Planungsbeteiligung rubriziert werden, denn es stellt in seinem Wesen etwas anderes, viel Weiterreichendes dar: es repräsentiert eine neue Qualität von gesellschaftlicher Regulierung, bei der eine enge Abstimmung und Vernetzung zwischen Selbstregulierung und kommunaler Steuerung erreicht wird.

Ich hatte in den Niederlanden in einer Reihe solcher Gremien gesessen, allerdings waren diese auf nationalem Niveau angesiedelt gewesen; und sie pflegen nicht öffentlich zu tagen. Nichts desto trotz haben diese Gremien einen immensen Einfluß. Ich vertraute also darauf, daß ein Stadtforum in Berlin auch in einer politischen Kultur, in der diese Form der Entscheidungsvorbereitung nur wenig entwickelt ist, doch ebenfalls einen Einflußfaktor darstellen könne, wenn - wichtige conditio - hier die Sitzungen öffentlich wären und alle Argumente transparent vor den Augen und Ohren der Stadt vorgetragen würden.

Es war nicht von ungefähr, daß sich gerade Werkbundmitglieder durch diese Vorstellung angesprochen fühlten; sie korrespondierte mit wesentlichen Grundgedanken des Werkbundes selbst, die ich eingangs angesprochen habe. Der Gedanke eines stadtweiten Planungsforums wurde denn auch sogleich aufgegriffen, und unmittelbar im Anschluß an die September-Konferenz in der Französischen Kirche setzte sich eine Initiativgruppe des Werkbunds zusammen mit dem Ziel, sich über ein solches Forum zu beraten.

Über das generelle Konzept war man sich bald einig: es sollte ein breites Forum zur öffentlichen Diskussion der Berliner Stadtentwicklung werden, in dem sich Vertreter aller Kategorien von städtischen Akteuren zusammenfinden. Dann aber erwachte der Teufel, der sich bekanntlich im Detail versteckt hält, und es erhoben sich ziemlich grundsätzliche Fragen über die konkrete Ausgestaltung dieses Konzepts. Es begann eine Serien engagierter und hektischer Sitzungen, und vielleicht wäre die Initiative wäre trotz allen Enthusiasmus doch noch vorzeitig gestrandet, wenn sich nicht der organisatorische Arm des Werkbund in Gestalt seiner Geschäftsführerin bemerkbar gemacht hätte. So wurde hartnäckig immer wieder in kurzen Abständen zusammengetrommelt und auf ein Papier gedrängt. Die Klarheit, die das Schwarz-auf-Weiß erfordert, stieß uns unerbittlich auf einige zentrale demokratie-theoretische Fragen, die freilich in ganz pragmatischem Gewande einherkamen.

Die erste strittige Frage war: Wer sollte Träger eines solchen Forums sein? Der Werkbund? Ein eigens hierfür gegründeter gemeinnütziger Verein? Der Senat von Berlin? Die Senatsverwaltungen für Stadtentwicklung und Umweltschutz und die für Bauen und Wohnen? Einmal braucht ein arbeitsfähiges Forum eine Finanzausstattung, zum andern braucht es einen Träger von solchem politischen Gewicht, daß es bei schwerwiegenden Planungsempfehlungen ernst genommen wird. Eine Initiativgruppe, auch wenn sie 'aus gutem Hause', sprich dem Werkbund stammt, kann das nicht aufbieten, und auch mit einer hinreichenden Finanzausstattung konnte der Werkbund nicht winken. Eine sinnvolle Lösung wäre sicherlich eine Anbindung beim Regierenden Bürgermeister von Berlin gewesen - hier hätte das Forum Reputation mit einem über allen Senatsverwaltungen stehenden Status verbinden können. Diese Lösung setzte allerdings voraus, daß der regierende Bürgermeister Sinn für ein solches Experiment und seinen stadtgesellschaftlichen Wert gehabt hätte. Leider war dem nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße so.

Schließlich gab es eine second best-Lösung, die dafür aber immerhin etwas von einer 'Werkbund-Lösung' hatte: Die Idee wurde adoptiert durch den entsprechenden Fachsenator, Dr. Volker Hassemer, (zufällig?) Werkbundmitglied. Auch wenn es sich dabei um den Senator mit dem "richtigen" Ressort, nämlich Stadtentwicklung und Umweltschutz handelte, so hatte sich das Forum in statu nascendi doch damit bereits einen gravierenden Geburtsfehler zugezogen, der in der Zukunft eine stark einschränkende Rolle spielen sollte. Die Adoption des Konzepts durch lediglich einen einzigen Senator beschränkte seine politisch Basis weitgehend. Denn allein schon wichtige fachliche Dimensionen der Stadtentwicklung waren in Berlin zu diesem Zeitpunkt in anderen Senatsverwaltungen untergebracht (Bauen und Wohnen, Verkehr), von anderen Aspekten der Stadtgesellschaft und ihrer Entwicklung, deren feste Integration in die Arbeit eines solchen Forums sinnvoll gewesen wäre, ganz zu schweigen.

Ein anderer in der Initiativgruppe heftig diskutierter Punkt war die Frage, ob die politische Ebene sich in einer Art moralischer Selbstbindung vorab als dem Stadtforum untergeordnet erklären solle, sprich sich verpflichten müsse, die Beschlüsse des Stadtforums als bindend zu betrachten. Es kostete für manch einen große Mühe, von dieser Idee, die nun doch sehr weit entfernt von der politischen Realität angesiedelt war, Abschied zu nehmen. Man begnügte sich schließlich mit der Kernidee, das Stadtforum als eine Diskussions- und Abstimmungsrunde von Repräsentanten der wichtigen Gruppen in der Stadt sowie Fachleuten aller Disziplinen innerhalb und außerhalb der Verwaltung zu sehen; Zweck sollte sein, die Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung zu unterstützen durch eine für die Öffentlichkeit transparente, rationale Verhandlung aller Gesichtspunkte, die in diesem Gremium ja in der Auswahl der Beteiligten quasi physisch vertreten zu sein hatten. Ziel sollte sein, damit zur Formulierung von breit getragenen Empfehlungen zu kommen, die zwar keinen parlamentarischen Status haben würden, aber die politische Ebene zumindest indirekt moralisch binden würden.

Dann kamen die ersten Konsequenzen der Umsetzung der 'reinen Idee' in die politische Praxis in Sicht. Senator Hassemer, der die Idee so begeistert aufgegriffen hatte, entwickelte eine Struktur für das Gremium, besetzte sie mit Personen und tat dies nach eigener Einsicht. Die aber war zunächst wesentlich geprägt von seiner Erfahrung mit Experten als Beratern. Entsprechend bekam das neu entstehende Stadtforum einen gehörigen Drall in Richtung auf ein Expertengremium. Der Anteil der Fachleute, die vom Senator ins Stadtforum berufen wurden, war überdurchschnittlich groß, und die Auswahl der Repräsentanten der wichtigen Gruppen in der Stadt zeigte Lücken - erst im Laufe der folgenden Jahre konnten hier in zäher Argumentation Korrekturen durchgesetzt werden. Und es blieben in meinen Augen wesentliche Fehlstellen. Daß sich später ein Stadtforum von unten gründete, ist sicherlich auch dieser unausgewogenen Besetzung zuzuschreiben: es blieben Gruppen außen vor, die sich nicht vertreten fühlten und die das Forum als Vertretung von oben begriffen. Als Mitglied der Stuurgroep Experimenten Volkshuisvesting, der unabhängigen Experimenten-Kommission des niederländischen Bau- und Raumordungsministeriums, hatte ich bereits einmal ein solches Problem und auch seine - einfache - Lösung mitgemacht: Nach der ersten Zusammensetzung der Kommission hatte sich Protest von der 'Basis' her erhoben, die sich nicht vertreten fühlte. Ohne jeden Umstand berief der verantwortliche Staatssekretär eine weitere Person in das Gremium, die sehr wohl das Vertrauen der protestierenden Gruppierung besaß. Problem gelöst. Was hier die Lösung leicht gemacht hatte, war die große Erfahrung mit derartigen Gremien, während sich ein Berliner Senator, auch war es einer mit großer Offenheit und außergewöhnlichem Scharfsinn, auf Neuland bewegte.

Trotz aller 'Expertenaffinität' und 'Angst vor der Basis' erwies Senator Hassemer ein gutes Gespür für die Wahl der Mitglieder: Das Gremium, das schlußendlich zusammentrat, bestand aus einer Gruppe von breit denkenden, offenen Menschen, von denen jede/jeder einzelne imstande war, über den Tellerrand ihres/seines Fachs und ihrer oder seiner Position und Rolle hinauszusehen. Und ebenso glücklich war die Wahl von einigen 'Querdenkern', wie Hassemer sie nannte, aus Kunst und Kultur, die tatsächlich manchmal eingefahrene Denkmuster durchbrechen konnten.

Als das Stadtforum Berlin eröffnet wurde, hatte es ca. 60 feste Mitglieder, übersichtlich gegliedert in 'Bänke', zu denen Mitglieder ähnlicher Provinienz zusammengefaßt waren, so daß der Hintergrund der vorgetragenen Argumente erkennbar wurde. Zum einen saßen da anerkannte Persönlichkeiten aus wichtigen Verbänden und Organisationen in der Stadt, vom Mieterverein über Gewerkschaften bis zu den Investoren und Wohnungsbaugesellschaften und schließlich selbst den politischen Parteien; zum andern nahmen Persönlichkeiten aus den verschiedenen Fachvereinen der Architekten, Stadtplaner, Landschaftsplaner und Verkehrsplaner teil, daneben wie die erwähnten die "Querdenker".

Die Sitzungen des Stadtforums wurden vorbereitet und ausgewertet von einer Lenkungsgruppe, die Senator Hassemer mit einigen Fachleuten aus sehr unterschiedlichen Erfahrungsbereichen besetzt hatte, und die in vielem recht unterschiedliche Auffassungen vertraten, so daß auch in der Steuerung der Arbeit des Forums ein gewisser Proporz zur Geltung kam. Nach einigem Zögern war ich im zweiten Anlauf hinzu gebeten worden, nachdem eine zwischen New York und Zürich pendelnde Größe abgewunken hatte - was neben der Werkbundpräsenz u.a. auch die Verfahrenssensibilität in der Lenkungsgruppe stärkte. Daneben stand eine sog. Werkbank zur Verfügung, unabhängige Fachleute, die im Bedarfsfall Fragen näher untersuchen sollten, die im Laufe der Forumssitzungen unzureichend geklärt werden konnten, so daß man sich auf einer späteren Sitzung nochmals fundierter damit befassen konnte. Auch hier arbeiteten Werkbundmitglieder mit.

In der Regel eine Woche vor den Sitzungen des Stadtforums wurden die Teilnehmer mit einem kurzen thematischen Aufriß der wesentlichen ungeklärten Fragen versorgt, dazu wenn möglich mit einigem erläuternden Material. Zur Sitzung selbst wurden dann jeweils einige namhafte und gerade in diesen Fragen exponierte Referenten um kurze Diskussionsinjektionen gebeten, wobei es nicht um Vorträge gehen sollte, sondern um das prägnante Auffächern der relevantesten Positionen zum jeweiligen Thema - und überraschend oft näherten sich die Redner, die alle viel zu viel zu sagen hatten, doch diesem Ideal. Auf dieser Basis fand dann eine eingehende, aber auch sehr disziplinierte Diskussion der Teilnehmer statt - wobei aber die Kaffee-Pausen als strategische Unterbrechung nicht unerwähnt bleiben dürfen, die strikt nach anderthalb Stunden durch den Vorsitzenden eingeläutet wurden und die einen hohen Stellenwert in der Konsensbildung hatten!

Die Sitzungen waren presseöffentlich, und die Medien machten, zumindest in den ersten Jahren, viel Gebrauch von der Möglichkeit, Positionen zur Stadtentwicklung zu berichten, Aber die Pressetribüne war regelmäßig auch von solchen Besuchern besetzt, die ein besonderes Interesse an den jeweils zur Behandlung anstehenden Themen hatten. Es gab keine Einlaßschranken, und das war gut so. Aber das Forum war auch kein Fußballstadion, auf dessen Feld ein kleines Trüppchen Schaukämpfe aufführte, umjohlt von Anhängern und Gegnern. Es ging vielmehr - auch wenn das allzu hochherzig klingen mag - für die Teilnehmer um so etwas die Entdeckung eines omnium optimum für brennende Fragen.

Das alles trug dazu bei, eine erstaunlich breite, stadtweite Diskussion zu entfachen. Wenn ich aus Amsterdam oder Hamburg angereist kam, pflegte ich auf meinem Weg zum Stadtforum alle, die sich ansprechen ließen, über die Neuigkeiten der Stadtentwicklungsplanung zu befragen. Und fast alle reagierten sie mit einigem Wissen und Interesse: die Zeitungsfrau am Kiosk im Bahnhof oder im Flughafen, der Taxichauffeur, Menschen, die mit mir auf den Bus warteten oder neben mir in der Metro saßen. Stadtentwicklung war zu einem lebendigen Thema in der Stadt geworden.

Die Sitzungen des Stadtforums waren mit zweimal vier Stunden unverhältnismäßig lang und intensiv, der Sitzungsrhythmus in den ersten beiden Jahren vierzehntägig, später immerhin noch einmal im Monat. Das mag im Nachhinein als kaum leistbar erscheinen, aber gerade die hohe Dichte der Terminabfolge dürfte ein wesentlicher Faktor gewesen sein, um die Vertrauensbasis zwischen den qua Einstellung und Hintergrund so unterschiedlichen Teilnehmern zu schaffen, die Voraussetzung war für eine unvoreingenommene und lösungsorientierte Diskussion auf hohem Niveau; und es muß zur Ehre des Forums in diesen ersten fünf Jahren gesagt werden: das Geschehen sackte so gut wie nie auf das Niveau eines Hearings oder eines Vortragszyklus ab.

Wesentlichen Anteil hatte daran Senator Hassemer, der etwaige Weitschweifigkeiten oder Wiederholungen mit sarkastischen Zwischenrufen zu brandmarken pflegte. Die Ehre darf sich aber auch zu einem wesentlichen Teil der Werkbund zurechnen. Die Initiativgruppe des Werkbunds, die so viel Engagement gezeigt und so sehr um die Realisierung dieses Stadtforums gekämpft hatte, hatte sich nach dessen Etablierung nicht etwa beruhigt aufgelöst. Sie betrachtete sich nach wie vor verantwortlich für das Konzept und als Hüterin seiner Umsetzung. Folgerichtig begleitete sie das Stadtforum in allen seinen Schritten mit Argusaugen und sparte nicht mit Kritik. Immer wieder drang sie an auf Zwischenbilanzen und kritische Selbstreflektion, es wurden Papiere verfaßt, ihre Mitglieder meldeten sich auf den Sitzungen hartnäckig zu Wort. Es war nicht zuletzt dieser unermüdlichen Haltung zu verdanken, die ja keine Vorteile brachte, sondern nur getragen war von einem großen Gefühl der Verantwortung für diese aufregende Neuerung, daß dieses methodische Umdenken in Sachen 'wie man Planung vorbereitet' so weit realisiert werden konnte. Man darf immerhin das Gewicht des Gewohnten nicht unterschätzen, das auf allen Neuerungen so schwer lastet. Die natürliche Neigung zu Rückfällen ins altvertraute Denken erfordert einfach über längere Zeit hinweg ein dezidiertes Gegensteuern und ein wiederholtes Reden über methodische Fragen der Vorgehensweise - was im allgemeinen nur wenige Leute interessiert. Das war der Grund für die manchmal fast dramatischen Interventionen von Werkbundmitgliedern, Grund auch für die vielen konzeptionellen Texten über das Stadtforum, die ich in dieser Zeit geschrieben habe.

Auf die inhaltliche Seite der Arbeit des Stadtforums in seinen ersten fünf Jahren will ich der gebotenen Kürze wegen hier nur mit einigen Stichworten eingehen. Interessierten empfehle ich die ausführliche Dokumentation im Anhang meiner diesbezüglichen Buch-Publikation(3). Das Stadtforum hat sich in dieser für die Perspektiven der Stadt so entscheidenden Periode mit praktisch allen dringenden Fragen der Stadtplanung und Stadtentwicklung auf unterschiedlichen Maßstabsebenen und in unterschiedlichen Sektoren befaßt. So kamen immer wieder die Frage des Leitbilds der Berliner Stadtentwicklung, das Verhältnis Berlins zu seinem Umland und die Entwicklungsperspektiven, die der neue Flächennutzungsplan zeichnen sollte, zur Sprache, aber ebenso Fragen wie die der Erneuerung der Innenstadtgebiete im Ostteil der Stadt, der Umgang mit den Plattenbau-Quartieren, die Projekte der Hauptstadtplanung und ihre Auswirkungen, kommerzielle Investorenprojekte, die Verkehrsführung, Prinzipien der Gestaltung des öffentlichen Raumes etc.

Alle Themen standen nicht nur in Bezug zu jeweils anstehenden Entscheidungen im Abgeordnetenhaus, sondern auch zur Arbeit der Verwaltung. Die Tagesordnung war sehr weitgehend durch den Bedarf der Tagespolitik bestimmt, und das war sicher gut so. Aufs Programm kamen vorrangig die Fragen, die entschieden werden mußten, das hatte den Vorteil einer großen Aktualität dessen, was verhandelt wurde, und es stellte sich, im Nachhinein betrachtet, unwillkürlich auch ein sinnvolles Pendeln zwischen Fragen von großem und kleinem Maßstab ein, von der Dimension der Regional- und Stadtentwicklung bis hin zur Projektdimension - ein naturwüchsig dialektisches Verfahren, was sich als sehr fruchtbar erwiesen hat. Doch barg die enge Beziehung zur Tagespolitik auch die Gefahr der Funktionalisierung des Forums für's politische Geschäft und der Legitimierung von Entscheidungen vor der Öffentlichkeit.

Und es gab andere Schwachstellen: Erklärtes Selbstverständnis des Stadtforums war es, durch die Diskussionen zu breit getragenen Empfehlungen an den Stadtentwicklungssenator zu kommen, die dann Eingang in die politische Entscheidung finden sollten. Oft aber war die Zeit zu kurz, um zu einem gemeinsamen Nenner zu gelangen. Nicht selten auch verstand sich der Senator keineswegs mehr als Zuhörer, sondern regierte mit scharfer Argumentation in die Tendenz der Wahrheitsfindung hinein. Ebensowenig klappte die Rückmeldung zu den Empfehlungen. Wieviel von ihnen war nun eigentlich in den tatsächlichen politischen Entscheidungen übrig geblieben? Etliche Male liefen die politischen Entscheidungen spektakulär anders. Schließlich war das Forum nur mit einem der Senatoren verknüpft. Verkehr, Bauen + Wohnen, Wirtschaft, Soziales, Kultur: alles Ressorts, die eng mit der Stadtentwicklung zu tun haben, waren, wie bereits erwähnt, nicht eingebunden. Und wie weit fühlte sich dieser eine Senator wirklich eingebunden? Die entscheidenden Abstimmungen und Abgleichungen fanden zweifelsohne außerhalb des Forums statt. Wenn dies wohl auch bei keiner Konstruktion verhindert werden kann und das Forum dem nur die Transparenz seiner eigenen Beratung entgegensetzen konnte, so wäre doch eine größere Breite der politischen Trägerschaft (wenn es denn eine politische sein muß) eine wesentliche Verbesserung der Wirkungsmöglichkeit des Forums gewesen.

Ein wirkliches Positivum dagegen war das Verhältnis zur Verwaltung, das sich nach anfänglicher Reserviertheit ausgesprochen kooperativ entwickelte. Man reagierte offen und interessiert, man begriff den Gewinn, den diese breiten Vorab-Diskussionen erbringen konnten: hier kamen gebündelt und schnell Stellungnahmen von verschiedenen Fachdisziplinen auf den Tisch sowie Positionen von Trägern öffentlicher Belange, die sonst nur in einem zeitraubenden Verfahren eingesammelt werden können; hier konnten im Dialog Leitideen und Ziele der Stadtentwicklung und der sektoralen Planungen abgeglichen und konkretisiert werden und geriet in ersten Ansätzen eine integrale Planung in Sicht.

Der faktische Einfluß, den das Stadtforum in den ersten fünf Jahren seines Bestehens hatte, ist freilich von mir, außenstehend, selbst im Ausland lebend, nur schwer anzugeben. Hätte die Durchsetzung von starken Investoren-Interessen und von vorgefertigten Bildern der Hauptstadt Berlin bei den Bonner Politikern nicht grad so ausgesehen, wenn das Forum nicht bestanden hätte? Vielleicht. Und in anderen, weniger zentralen Entscheidungen? Der damalige Senator und die Insider der Berliner Planungsszene werden die Frage nach dem tatsächlichen Einfluß des Stadtforums in dieser Periode eher beantworten können, auch wenn damit immer ein spekulatives Moment verbunden sein wird. Sicher ist jedenfalls, daß das Stadtforum entschieden zu einem breiten Interesse in der Stadt an der Stadtentwicklungsplanung beigetragen hat. Stadtöffentlich wurde in diesen Jahren konzentriert und auf erstaunlich hohem Niveau diskutiert. Zurecht hat der Werkbund diese besondere Errungenschaft Stadtforum beim Regierungswechsel mit Verve verteidigt und viele Mitstreiter dafür mobilisieren können - der Beitrag von Volkmar Strauch berichtet davon. Mit Höhen und Tiefen genießt es auch jetzt noch Aufmerksamkeit bei den Medien und auch bei Bürgern. Mittlerweile ist es so etwas wie eine Institution und - wie die vielen Nachfragen aus deutschen und ausländischen Städten zeigen - Vorbild für einen Typus geworden, auch wenn nun in seiner zweiten Periode es selbst diesem Typus nicht mehr so recht entspricht.

Das Entstehen so vieler Foren seither zeigt jedenfalls, daß es sich bei der Konstruktion 'Stadtforum' nicht um eine lokale Besonderheit gehandelt hat, die anderswo nicht wiederholbar wäre im Gestrüpp von Regelwerk, Verwaltung und politischem Tagesgeschäft, und die nur glücken konnte durch die politische Kreativität, die Berlin unter der großen Herausforderung der Vereinigung beider Stadthälften zu mobilisieren wußte - im Zusammenspiel der 'zukunftsweisende Vereinigung' Werkbund (ich hoffe meine eingangs angekündigte Beweisführung eingelöst zu haben) mit einem risikobereiten und scharf denkenden Senator und einer selektierten Versammlung offener und geistig beweglicher Menschen. Was hier angestoßen worden ist, stellt in nuce einen qualitativ weitergehenden Ansatz von Planung dar als die Partizipationsverfahren der Vergangenheit: Planung als gemeinsame Handlung der städtischen Akteure, die in einem offenen Diskussions- und Verhandlungsprozeß eine tragfähige, konsensfähige Lösung erarbeiten. Bleibt zu hoffen, daß die großen Schritte in Richtung auf eine zivilgesellschaftliche Selbststeuerung, die mit dem Konzept des Stadtforums Berlin gemacht worden sind, nun nach einem Schritt zurück, in einer nächsten Phase über das schon einmal Erreichte weiter hinausführen wird - wie bei einer Echternacher Springprozession: mit große Neuerungen geht das nun einmal nur so. Der Werkbund wird sicherlich nicht nachstehen, erneut unterstützend in die Bresche zu springen.

Anmerkungen:

(1) s. K. Schmals/H. Heinelt (Hg.), Zivile Gesellschaft, Entwürfe - Defizite - Potentiale. Opladen 1997

(2) Eine ausführlichere Darstellung solcher Verfahrensweisen in den Niederlanden siehe in: H. Fassbinder, Demokratisch Planen - Aufgaben und Erfahrung. Beitrag zu "Berlin - eine europäische Metropole", Seminar zur Stadtentwicklung und Stadtplanung. In: Hanseatenweg 10, Zeitschrift der Akademie der Künste, Nr.2/91, S. 84 ff. ; ebenfalls abgedruckt in: H. Fassbinder, Stadtforum Berlin - Einübung in kooperative Planung. Harburger Berichte zur Stadtplanung Bd.8, Hamburg 1997, S. 33 ff., dort unter dem Titel "Demokratie als Bauherrin der Stadt".

(3) Helga Fassbinder, Stadtforum Berlin - Einübung in kooperative Planung. Harburger Bericht zur Stadtplanung Bd.8, Hamburg 1997