Für Helga Fassbinder, die „Großmutter der sanften Stadterneuerung“, liegt klar auf der Hand: Alle Stadtgebäude gehören mit einer grünen Haut überzogen. An der Lernfähigkeit der Architekten und Stadtplaner hat sie jedoch ihre Zweifel. Deshalb hofft sie auf die Vorbildwirkung der Pariser „Zweiten Grünen Revolution“.
Frau Fassbinder, Sie beschäftigen sich unter anderem mit den Konsequenzen von Erderwärmung und Klimawandel für die Stadtplanung. Zu welchen gedanklichen Ergebnissen hat Sie das schon geführt?
Wir müssen gründlich neu nachdenken über die Stadt, und das beginnt mit dem Unterschied zwischen Stadt und Natur, mit dem alten Gegensatz von Stadt und Land. Langsam, aber sicher muss darüber nachgedacht werden, dass dieser Gegensatz nicht mehr stimmt, die Biologen haben die Sache aufgemischt. Ihre Forschungsergebnisse besagen, dass die Biodiversität in den Städten viel größer ist als auf dem Land, sprich: es gibt in den Städten mehr Sorten von Flora und Fauna als außerhalb. Was das bedeutet, ist noch nicht richtig angekommen bei den Stadtplanern. Die denken und planen in den Farben Rot und Grün. Rot steht für Gebäude und Infrastruktur, Grün für Natur als Rekreation.
Wie sonst sollen sie denn denken und planen?
Klimawandel, Erderwärmung, Feinstaubemissionen – die Städte sind Übeltäter Nummer eins. Deshalb geht es um nichts weniger als einen Paradigmenwechsel, und das ist natürlich keine einfache Sache, schon gar nicht für Fachleute. Die müssten nämlich erst einmal einen Schritt zurücktreten von ihrem erlernten und erprobten Wissen, von den eingefahrenen Gleisen ihres Denkens, von einem ganzen System im Kopf, das auch den Status in der Gesellschaft bestimmt. Und das ist schwierig.
Einen Schritt zurück – und dann wohin?
Es ist höchste Zeit, die Stadt einmal mit den Augen von Tieren und Pflanzen und deren Saaten zu betrachten, so absurd das im ersten Augenblick vielleicht erscheinen mag. Tiere und Pflanzen denken nämlich nicht in den Kategorien Stadt und Natur, sondern sie nehmen einfach eine anderssortige Umgebung wahr. Für sie ist die Stadt eine felsige Landschaft. Und als nächstes können wir uns fragen: Was haben sie, die Tiere und Pflanzen, und wir Menschen gemeinsam nötig? Haben wir etwas aneinander? Wir lernen doch schon in der Grundschule, dass wir einander sogar bitter nötig haben – wir atmen Sauerstoff ein und Stickstoff aus, und die Pflanzen tun das Umgekehrte, und die Insekten leben von den Pflanzen und die Vögel halten die Insekten in Zaum. Das ist eine alte Geschichte, eine Binsenweisheit. Grund genug also, Tiere und Pflanzen in unsere Lebenswelt zu integrieren.
Klingt sehr nach Öko-Romantik ....
Na, das wäre die verkehrte Schublade... Nein, hier geht es um ganz handfeste technische Fakten, die uns die Biologen vorrechnen. Für die Stadtplaner, die Fachleute, die Spezialisten für Technik und Schönheit ist das aber trotzdem noch nicht wirklich handlungsrelevant. Sie haben in ihrer Disziplin für die Natur eine Schublade kreiert mit der Aufschrift „Rekreation – Parks und Gärten“. Dass war aber nur so lange hinreichend, wie die Natur außerhalb der Städte auffangen konnte, was wir in den Städten selber verbocken. Das ist aber schon seit längerem nicht mehr so. Und jetzt kommt eben unser neues Problem hinzu, die Erderwärmung und deren Folgerscheinungen, welche die ganze Infrastruktur durcheinander bringen. Die Städte, das ist deutlich geworden, spielen dabei die Hauptrolle.
Inwiefern?
In den Städten und den Luftschichten darüber ist es wärmer als in der Natur und deren Luftschichten, das ist bekannt, und das ist nicht gut. Dabei geht es nicht allein um die Strahlungswärme, sondern auch um Folgeerscheinungen wie Überschwemmungen. Dass die Oberfläche der Städte bei starkem Regen kein Wasser zurückhalten kann, ist an sich logisch und bekannt; wegen der turbulenten Wetterlagen und der Sturzfluten, die vermehrt kommen, wird es aber zum Problem. Die Frage ist: Wie können wir auf natürliche Weise etwas dazu beitragen, dieses Problem zu entschärfen? Und mit natürlich meine ich, auf eine Weise, die nicht erneut mit viel Energieverbrauch verbunden ist.
Haben Sie auch eine Antwort auf diese Frage?
Betrachten wir die Stadt einmal als eine spezifische Sorte von Natur. Ein Beispiel: Regenwasser wird zu einer gewissen Höhe zurückgehalten in der Erde, mit der die Pflanzen Wasser aufnehmen. Wenn diese Erde entfernt wird, um ein Gebäude zu errichten, muss das noch nicht unbedingt ein Problem sein. Man kann diese Erde einfach einige Etagen höher legen, aufs Dach, wo sie dasselbe tut, nämlich reichlich Wasser aufnehmen, bevor sie den Überfluss abgibt. Zudem ist das eine Isolationslage gegen Hitze und Kälte. Das Vermögen, Feuchtigkeit zurückzuhalten und durch die Blätter der Pflanzen Sauerstoff abzugeben, trägt zu einer Verbesserung des städtischen Klimas bei, das ist bekannt.
Sie würden also am liebsten alle Stadtgebäude mit einem grünen Dach versehen?
Es wäre auf jeden Fall sehr vernünftig. Seit kurzem wissen wir ja auch, dass der positive Effekt noch weiter geht, denn wir haben es auch noch mit Feinstoffemissionen zu tun; die Feinstoffnorm der EU ist ein großes Problem für die Städte. Grün reinigt die Luft, Blätter saugen in ihrem Stoffwechselprozess sozusagen Luft an, und in den Städten ist das feinstoffhaltige Luft. Die Folge: Die Feinstoffe bleiben an der Oberfläche der Blätter kleben und werden mit dem nächsten Regen wieder abgespült in die Kanalisation.
Geschieht das wirklich in einem umweltrelevanten Ausmaß?
Da kann ich von einer Sensation berichten: An der Technischen Universität Berlin sind Untersuchungen angestellt worden, die zwar noch nicht ganz abgeschlossen sind, aber alles weist darauf hin, dass grüne Oberflächen Feinstoffe in der Luft um ein Drittel reduzieren können. Wenn man ganz nüchtern darüber nachdenkt, müsste es also auf der Hand liegen, so ziemlich alle Gebäude mit einer grünen Haut zu überziehen. Wir sollten eher erstaunt sein, dass wir nicht schon längst damit beschäftigt sind. Denn gerade die hoch verdichtete Stadt als eine grüne Stadt könnte ein effizienter Beitrag im Kampf gegen die Verschlechterung der städtischen Umweltbedingungen sein.
Sie sagen, die Gebäude mit einer grünen Haut überziehen. Auch vertikal?
Ja, nicht nur die Dächer, sondern auch die Fassaden, der positive Effekt des Grüns gilt ja nicht nur für horizontal, sondern auch für vertikal angebrachtes Grün. Das hat dieselben Umwelteffekte – und kann übrigens genauso gut zur Wärmeisolation beitragen, je nach Konstruktion.
Ist eine so total grüne Stadt nicht eine Horrorvision für moderne Architekten und Stadtplaner?
Natürlich kollidiert das frontal mit dem Bild von Stadt, das wir im Kopf haben. Denn die Städte würden mit einem Mal ganz anders aussehen, wie eine grüne Landschaft mit vielen grünen tiefen Schluchten. Als Stadt nicht wiederzuerkennen! „Wo bleibt denn da die Architektur!?“, würde es heißen. Und da liegt wahrscheinlich der Hase im Pfeffer. Das könnte der tiefere Grund sein für die eingefleischte Trennung der Stadtplaner zwischen Rot und Grün, also Gebautes und Natur, die eine solche Idee so absurd erscheinen lässt. Auf dieser Trennung basiert unsere gesamte urbane Ästhetik.
Wie kam es zu dieser unserer urbanen Ästhetik?
Das hat zwei handfeste Gründe: Einmal war die Natur bis Ende des 18. Jahrhunderts etwas, was als bedrohlich erfahren wurde und wogegen man sich zur Wehr setzen musste. Wenn man sich die Bevölkerungsstatistik im historischen Verlauf ansieht – wie klein war damals noch die Weltbevölkerung, wie dünn besiedelt selbst die bestimmenden Kulturlandschaften und wie gering die technologischen Möglichkeiten, sich gegen Naturgewalten zur Wehr zu setzen! Aus dieser Anti-Natur-Haltung ist eine ganze ästhetische Tradition hervorgegangen. Und die Städte wurden deren Zentrum.
Das von Menschen Gemachte wurde zur Antipode der Natur?
Ja, sichtbar gemacht in den Gebäuden, selbst in den Gärten als gezähmte Natur. Und diese Auffassung ging dann im Zuge der Aufklärung Hand in Hand mit dem Fortschrittsdenken. In der Architektur hat sie schließlich ihren Höhepunkt erfahren in der Moderne und deren Ästhetik, ganz und gar rational und den technologischen Fortschritt feiernd. Und die Natur wurde eng umgrenzt in eine Ecke gestellt mit der Funktion „Rekreation“. Aber es gab auch noch einen anderen vernünftigen Grund, Natur aus den Gebäuden herauszuhalten: Wir verfügten in der Vergangenheit nicht über die technologischen Möglichkeiten für eine problemlose Integration von Rot und Grün. Die Erfindung von Kunststoffen, von perfekten Folien und Dichtungsmaterialien ist erst wenige Jahrzehnte alt.
Wäre mit den heutigen technologischen Möglichkeiten ein so extremer „Grünschutz für Städte“, wie Sie ihn in die Zukunft projezieren, realisierbar?
Was die Dachgärten betrifft, gibt es inzwischen ausgereifte Konstruktionen, so dass es selbst aus ökonomischen Gesichtspunkten viel vernünftiger ist, ein grünes Dach zu wählen als ein nicht grünes. Ein grünes hält nämlich ungefähr doppelt so lange. Und es sind Pflanzenkombinationen entwickelt worden, die auch in sehr trockenen Sommern nicht gegossen werden brauchen. Es gibt ausgeklügelte selbststeuernde Berieselungs- und Bewässerungsinstallationen, und die sind nicht einmal besonders teuer. Und was für die Dachgärten gilt, das gilt inzwischen auch für das vertikale Grün. Man kann fantastische vertikale Gärten gestalten, die den berühmten Hängenden Gärten der Semiramis in Babylon in nichts nachstehen. Das war einmal das achte Weltwunder.
Also stünde einer flächendeckenden Dach- und Fassadenbegrünung an sich nichts mehr im Wege. Architekten und Stadtplaner verhalten sich aber dennoch zumindest abwartend, gegenüber Fassadengrün meist sogar abweisend. Warum?
Das ist natürlich alles noch ziemlich neu, man wurde ja mit völlig anderen Vorstellungen ausgebildet. Es ist auch viel Neues zu lernen an technischem Wissen, um diese Dinge anzuwenden. Und erst, wenn man selbst davon überzeugt ist, kann man auch Bauherren überzeugen. Wir sind halt immer noch sehr gefangen in der alten Idee, dass die Stadt ein Gegensatz zur Natur ist und dass die Oberfläche der Stadt aus harten anorganischen Materialien zu bestehen hat. Eine Pflanzenoberhaut für die Stadt erscheint uns noch ziemlich abwegig. Trotzdem wäre das DIE Richtung, die als Lösung zumindest zur Milderung unseres Problems angedacht werden müsste. Eine Lösung, die nicht zusätzlich Energiezufuhr nötig hat.
Wie zuversichtlich oder pessimistisch sind Sie, dass eine solche Richtungsänderung gelingt?
Wenn man das derzeitige Geschehen im Bereich Planen und Bauen betrachtet, vor allem die Ergebnisse von Architektur-Wettbewerben, gibt es allen Anlass, an der Lernfähigkeit der Profession unter veränderten Bedingungen zu zweifeln. Große Glasflächen, Stahl, wenig Grün, höchstens unter dekorativen Aspekten, das kennzeichnet die preisgekrönten Entwürfe der großen Wettbewerbe. Und das sind auch die Bauten, die in den Architekturzeitschriften angepriesen werden. Der große Ozeandampfer der Moderne fährt, wie es scheint, ungeachtet aller veränderten Bedingungen die alte Fahrtrichtung weiter. Und das ist fatal. Und unbegreiflich.
Das hört sich ja an, als befände sich der ganze Club der Moderne auf der Titanic, direkt auf Kurs in die Katastrophe.
Man muss sich zumindest fragen: Will man denn einfach nicht wissen, dass die Städte der Fokus einer Diversität von Umweltproblemen sind, mit sehr schwerwiegenden lokalen und globalen Folgen, die Millionen von Menschen heimsuchen können? Und denkt man nicht daran, dass die neuen Gebäude ja eine Zukunft bestehen müssen, eine Zukunft, die anders ist als die Gegenwart? Zudem lässt sich diese Zukunft ja nicht als eine lineare Extrapolierung des Heutigen denken.
Sondern?
Der Einfluss der Städte wird aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums in der Zukunft noch erheblich zunehmen. Dieses Wachstum wird ausschließlich in Städten stattfinden. Es ist auch nicht zu erwarten, dass das Konsumtionsniveau und damit die Emissionen sich auf dem heutigen Niveau linear fortschreiben und die Belastungen damit nur linear ansteigen. Wobei auch das schon eine Katastrophe wäre. Wir sind gerade Zeugen eines ungeheuren Wohlstandszuwachses in den asiatischen Ländern, vor allem in China. Malen wir uns das aus !
Für die Entwicklung des Konsumtionsniveaus und die Emissionen können Sie doch nicht die Architekten und Stadtplaner verantwortlich machen ...
Natürlich tragen wir allesamt dazu bei. Die Städte sind ja nicht nur Quelle von Wärmeabgaben und Orte der Feinstoffkonzentration, sie stoßen auch überproportional viel CO2 aus. Auch unsere Kommunikationstechnologie, an die wir ja alle so unwiederruflich gebunden sind, tut das Ihre hinzu. So hat das Forschungsbüro Gartner ausgerechnet, dass alle unsere Computer einen Anteil von zwei Prozent an den Emissionen von Treibhausgasen haben. Das ist ungefähr soviel wie die gesamte Luftfahrtindustrie. All das weiß man oder man kann es zumindest wissen. Für einen großen Teil der Fachleute im Bereich Planen und Bauen ist das aber immer noch ein fernes Wissen. Dabei gibt eine breite Palette von intelligenten Lösungen, die Energieverbrauch, Wärmeabgabe und Emissionen drastisch reduzieren könnten, Lösungen, die inzwischen auch hinreichend praktisch erprobt sind. Aber die führen immer noch eine Randexistenz. Und das ist unbegreiflich.
Was denken Sie, ist der Grund für diese Wissensverweigerung?
Vielleicht sind unsere abendländischen Gesellschaften strukturell nicht imstande zur Anpassung, weil sie so durchorganisiert, institutionalisiert und so stark verrechtlicht sind. Alles auf der Basis eines Denkens über Stadt und Bauen, das wir heute revidieren müssen – vielleicht ist das der Grund, weshalb es in dem so wichtigen Sektor Planen und Bauen einfach so weiter geht wie gehabt.
Sehen Sie denn nicht doch erste Anzeichen für eine Wende?
Doch sicherlich. Was die grünen Dächer betrifft, ist schon einiges in Gang gekommen. Es gibt Gemeinden, die grüne Dächer bereits zwingend beim Neubau vorschreiben, zum Beispiel Linz, Basel und andere Städte in der Schweiz sowie Toronto in Kanada. Andere geben ein demonstratives Vorbild für alle öffentlichen Gebäude. So lässt Chicago alle öffentlichen Gebäude mit einem Gründach versehen. Manche stellen gratis technische Beratung zur Verfügung, zum Beispiel Antwerpen, das stark darauf setzt, bestehende Gebäude unter ein Grün zu bringen. Da und dort wird also schon einiges getan.
Auch für die Fassadenbegrünung?
Mit dem vertikalen Grün ist es schwieriger, aber wie bei allen neuen Entwicklungen gibt es auch da Pioniere, und sogar sehr bekannte Architekten experimentieren damit. Jean Nouvel etwa hat in seinem neuen Museum am Quai Branly in Paris die ganze Fassade zur Seine hin begrünen lassen – von Patric Blanc. Das ist ein hinreißend schöner vertikaler Garten geworden, eine neue Touristenattraktion.
Wer ist Patric Blanc?
Das ist der Experte schlechthin auf diesem Gebiet, ein Biologe, der seit Jahrzehnten damit beschäftigt ist, Konstruktionen für vertikale Gärten zu entwickeln und Pflanzenkombinationen, die es auch in unseren kälteren Klimazonen im Winter aushalten. Inzwischen realisiert er solche Kreationen auf der ganzen Welt. In Frankreich ist er bei einem breiten Publikum eine populäre Persönlichkeit geworden. Der Gedanke an eine grüne Stadt kommt beim breiten Publikum ja sehr viel besser an als bei Architekten und Stadtplanern. Natur ist beliebt, man verlangt nach Natur, am liebsten so dicht wie möglich am Haus. Ein geradezu historisches Beispiel für diese Beliebtheit ist das Hundertwasserhaus in Wien, das weltweit sehr populär ist.
Sie meinen also, um Interesse für eine grüne Stadt zu wecken, sollte man besser bei den Bürgern anklopfen, als direkt an die Fachwelt heranzutreten.
Ja. Und auch dafür gibt es bereits ein schönes Beispiel, nämlich die Gemeinde von Paris. Die Pariser Stadtregierung hat das begriffen. Da ist etwas in Gang gekommen, was ich die Zweite Grüne Revolution nenne. Paris ist ja gut in Revolutionen, da haben wir schon davon profitiert – auch schon von einer Grünen Pariser Revolution, als Antwort auf unhaltbare Zustände und katastrophale Lebensumstände in vielen europäischen Städten in der Mitte des 19. Jahrhunderts, mit übervölkerten Quartieren, Tuberkulose, Schwindsucht, Cholera usw. Es musste etwas geschehen, und es geschah auch etwas. Man riss das Ruder herum, es fand eine erste Grüne Revolution statt. Vorreiter war Paris, und ihr Fahnenträger und Vorkämpfer war der berüchtigte Baron Haussmann. Er hat in nur anderthalb Jahrzehnten Paris modernisiert und riesige Verbesserungen der hygienischen Umstände umgesetzt. Er hat auch die Schlossgärten zerschlagen und damit zahlreiche öffentliche Gärten angelegt. Und er hat Paris mit einem Spinnennetz von Alleen überzogen. Haussmann hat Paris damals zur grünsten Stadt Europas gemacht, zum großen Vorbild, das überall Nachahmer fand. Grün war schick geworden.
Das heutige Stadtleben ist doch nicht vergleichbar mit den damaligen Zuständen. Wo soll bei dem heutigen Wohl- und Hygienestand die Motivation für rigorose Änderungen herkommen?
Heute stehen die Städte erneut vor einer großen Herausforderung, nicht geringer als vor 150 Jahren, aber mit einem gravierenden Unterschied: Die Reichweite der Auswirkungen ihrer Emissionen ist nicht nur regional oder europaweit, sondern global. In der dicht vernetzten und dicht bevölkerten Welt gibt es kein isoliertes individuelles Handeln mehr. Klimaauswirkungen, CO2-Ausstoß, Feinstoffemissionen, das hat Auswirkungen über Tausende von Kilometern hinweg.
Zu der von Ihnen angesprochenen Pariser „Zweiten Grünen Revolution“ – gibt es dort einen neuen Haussmann?
Paris ist die dichteste Stadt auf dem europäischen Kontinent, und das Problem ist dort besonders dringend, vor allem seit es die EU-Norm für Feinstoffe gibt, sprich: Paris hat Mühe, die Feinstoffnormen der EU zu erfüllen. Man hat planerische Maßnahmen eingeleitet, man ist dabei, den Verkehr auf einen öffentlichen Verkehr umzupolen. Das ist mühsam, aber immerhin sind viele Boulevards mit zwei Busspuren versehen worden. Und die Grünplanung hat man zu einer zweiten Schiene erhoben. Das ist sehr klug, weil Grün beliebt ist, weil es Mitmachen aktivieren kann, und es ist preiswert, es kann selbst die Unterhaltskosten senken und es verlangt nicht viel Energie. Der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë hat das offensichtlich begriffen. Paris muss seiner Meinung nach grün werden.
Welche konkreten Grün-Maßnahmen setzt die Stadt Paris?
Im Juni 2007 gab es vor und in dem Rathaus von Paris eine große Ausstellung mit vielen Pflanzen und Informationsständen, mit Filmen und Chart-Tafeln mit Plänen und Maketten, um die Bürger für mehr Grün in der Stadt zu begeistern. Da wurden alle Formen von Grün thematisiert, die man in einer Stadt einführen kann. In der Zeit von Delanoës Stadtregierung sind bisher 19 neue Parks geschaffen worden, zum Teil recht klein, aber immerhin, und hinzukommen propagiert man nun grüne Dächer, begrünte Außenwände, vielfältiges Grün in Pocketparks, zusätzliche Bäume als 1A-Luftfilter, offene Wasserläufe, bepflanzte Baumscheiben, Balkone mit Pflanzenbehältern, Nistangebote für Vögel – eine breite Palette. Man kann eine Baumscheibe für sich reservieren lassen, auch im Internet. Das wird dann registriert, und man kann dort einen Garten anlegen. Und das vertikale Grün wird speziell gefördert.
In welcher Form wird vertikales Grün gefördert?
Um die Bürger zu animieren, ihre Fassaden zu begrünen, gibt es dafür eine eigene Anlaufstelle in der Gemeinde. Die Stadt Paris bietet eine kostenlose Bepflanzung und einen kostenlosen Unterhalt des Fassadengrüns an. Man knüpft, was das Fassadengrün anbelangt, an die Tradition von historischen Fassaden an, die mit wildem Wein bewachsen sind und die überall in der Stadt zu finden sind. Und es gibt noch eine andere Sensation: In dem Pariser Plan Local d'Urbanisme (PLU), einem Zwischending von Bebauungsplan und Strukturplan, der 2006 verabschiedet worden ist, gibt es eine neue Kategorie: „Vertikales Grün“. Einige Gebiete in der Stadt sind damit ausgewiesen worden, und realisiert ist auch schon etwas, nämlich das Museum am Quai Branly von Jean Nouvel. In Paris wird alles abgedeckt. Und warum? Weil Grün eine relativ einfache und billige Weise der Reduktion von Umweltbelastungen durch Schadstoffe ist.
Auch in anderen Städten gibt es sehr schöne Beispiele für Grün in Innenhöfen und Dachgärten. Was ist das Revolutionäre an der Grünpolitik von Paris?
Das Revolutionäre an der Grün- und Umweltstrategie von Paris liegt hauptsächlich darin, dass man es integrieren will in eine Gesamtstrategie. Einzelne Bestandteile dieser Grünen Revolution gibt es natürlich auch in anderen Gemeinden, Pflicht-Gründächer zum Beispiel. Das vertikale Grün ist neu in der modernen Architektur, aber es ist keine neue Erfindung. Historisch gibt es wunderschöne Beispiele von Wänden und Häusern, die mit wildem Wein, Efeu, Blauregen oder anderen Kletterpflanzen bewachsen sind, selbsthaftend oder mit nur geringen Vorrichtungen zur Unterstützung.
Welche neuen Möglichkeiten der vertikalen Begrünung gibt es?
Es gibt inzwischen technische Konstruktionen, die es erlauben, sehr schöne vertikale Kunstwerke zu komponieren. Diese Konstruktionen gibt es in allen Ausführungen und Preislagen, von Stangengerüsten für rankende Pflanzen bis hin zu Konstruktionen einer geschlossenen zweiten Außenschale, die Pflanzenbehälter mit Substrat aufnehmen. Das ist alles bereits im Handel.
Gibt es auch aus anderen Ländern oder Städten ähnlich Positives zu berichten wie aus Paris?
In den ersten Juniwochen 2007 haben die Gewerkschaften der Niederlande zusammen mit den Umweltorganisationen dem Umweltminister einen Plan vorgelegt, wie die verschiedenen Wirtschaftszweige einen Beitrag zur Reduzierung des Treibhauseffektes leisten können. Sie forderten auf zu einer gesetzlichen Regelung einer Obergrenze des CO2-Ausstoßes pro Branche, um auf diese Weise Innovationen zu erzwingen. Das würde natürlich einen Schub in der Planungs- und Baubranche bedeuten. Ein ganz sensationeller Vorschlag, die Gewerkschaften Arm in Arm mit Greenpeace. Vielleicht sind wir ja doch zu Verhaltensänderungen imstande. Bleibt allerdings die leidige Frage, wie das den Architekten beizubringen ist.
Helga Fassbinder:
• 1975 Berufung als ord. Professorin an die Technische Universität Eindhoven, auf den ersten Lehrstuhl für Stadterneuerung in Europa.
• Aktiv in der europäischen Kampagne zur Stadterneuerung; vertrat die Niederlande in der Working Party Urban and Regional Planning der OECD in Genf zum Thema 'area based urban renewal'.
• Zwischenzeitlich Gastprofessorin in Berlin (HdK), Wien (Inst.f.Höhere Studien) und Leuven (Kath.Univers.); Vorträge im europäischen Raum. Forschung zu den Themen Wohnungsversorgung, Wohnungsbau, Stadterneuerung, Offenes Bauen, Urban Management, Wohnmilieudifferenzierung, Planungsstrategien.
• Ende der 80 Erweiterung ihres Lehrstuhl an der TUE um ein neues Gebiet: Urban Management.
• In den 90ern Professorin für Stadtplanung/Städtebau an der TU Hamburg-Harburg, Studienprojekte in Berlin und Paris. Mitbegründerin des Stadtforums Berlin und jahrenlang Mitglied seiner Lenkungsgruppe.
• Seit einigen Jahren beschäftigt mit dem Thema der conditio humana in der hochverdichteten Stadt: Entwicklung des Konzepts 'Biotope City', die Stadt als Natur. Sie ist Herausgeberin und Chefredakteurin des internationalen Online-Journals BIOTOPE CITY.
• Mitglied der Techn. Beratungskommission der Gemeinde Amsterdam für die Grünstruktur. |